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jag die hunde zurück! für sechs Soprane und sechs Schlagzeuger

Philipp Maintz (2024)

Die Idee, das Gedicht Die gestundete Zeit von Ingeborg Bachmann zu vertonen, muss ich schon irgendwann mit Anfang 20 gehabt haben. In meiner Vorstellung rummsten da eine große Zahl großer Trommeln unter hochliegenden Kantilenen von sechs Sopranen. Auf so eine Idee kann man wohl nur kommen, wenn man jung, noch leicht verrückt und ohne Angst vor Unmöglichkeiten ist. Diese Idee ist dann wieder in Vergessenheit geraten – weil eben noch andere, noch höher liegende Pläne dazwischenkamen, aus denen (naturgemäß) dann auch nichts geworden ist. In der Zwischenzeit habe ich dieses Gedicht immer wieder gelesen – und immer wieder habe ich, wenn es sich (wie ich es lese) gegen Vanitas und Untergang zu stemmen versucht, diese sechs Schlagzeuger:innen gehört. Vor ein paar Jahren (ich glaub, das war 2019) habe ich in einem Konzert einen Schlagzeuger eine kleine Figur spielen hören, eigentlich nichts wirklich Aufsehenerregendes. Das aber hat diese alte Idee von diesem Stück so sehr «getriggert», dass sie mich richtiggehend belästigt hat – und irgendwie klar wurde, dass ich es jetzt schreiben muss. Zu meiner großen Freude hat Louwrens Langevoort sehr kurzentschlossen zugegriffen und mir die Möglichkeit eröffnet, dieses Stück endlich zu realisieren – womit auch klar wurde: Ich musste sehr tief hinunter in den Keller alter Ideen, die ich gewälzt und begutachtet habe. Gleichzeitig hat mich dieses Stück sehr aus meiner eigenen Komfortzone herausgeführt – sechs Schlagzeuger:innen sind nicht das Allererste, was ich mit meiner Musiksprache heute so verbinden würde… Gleichzeitig hat es schon, lange bevor ich die erste Partiturseite geschrieben hatte, in die Stücke, die ich «drumherum» geschrieben habe, abgefärbt.

Ich lese dieses Gedicht nach wie vor (und mehr denn je) als einen Kassandraruf: ein Sichauflösen der «Dinge», ein Aufbrechen, ein Flüchten aus allem Gewohnten, zugleich Dunkelwerden und drohender Untergang. Für mich wird in dem Gedicht ein Raum immer enger, die Musik, die ich dazu höre, verengt, beschleunigt sich, verliert ihre Kontur in immer dichter werdenden Netzen. Was am Anfang ein Innehalten, eine Art bewachter Ruhe ist, in der kleine Klänge und Lichtlein kreisen, wird immer mehr zur massiven Wand. Und ich spüre sehr genau, wie das Gedicht in mir widerhallt. Ich glaube, dass ich dem, was ich darin höre, mit diesem Stück eine Spur legen wollte. Es gibt in dem Gedicht eine einzige Bewegung: Jag die Hunde zurück – das ist keine innere Geste, kein symbolischer Akt, das ist eine Tätigkeit, ein Eingriff, eine Form der Gegenwehr. Und vielleicht liegt darin die Hoffnung, die mich beim Schreiben getragen hat.

Denn ich bin sicher:
«Es kommen härtere Tage.»

(Philipp Maintz)

Die gestundete Zeit 

Es kommen härtere Tage. 
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald mußt du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe. 
Denn die Eingeweide der Fische 
sind kalt geworden im Wind. 
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen. 
Dein Blick spurt im Nebel: 
die auf Widerruf gestundete Zeit 
wird sichtbar am Horizont. 

Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand, 
er steigt um ihr wehendes Haar, 
er fällt ihr ins Wort, 
er befiehlt ihr zu schweigen, 
er findet sie sterblich 
und willig dem Abschied 
nach jeder Umarmung. 

Sieh dich nicht um. 
Schnür deinen Schuh. 
Jag die Hunde zurück. 
Wirf die Fische ins Meer. 
Lösch die Lupinen! 

Es kommen härtere Tage

(Ingeborg Bachmann)

Produktionen

2025
  • INGEBORG BACHMANN:

    jag die hunde zurück! für sechs Soprane und sechs Schlagzeuger
    Nach dem Gedicht Die gestundete Zeit (1953) von Ingeborg Bachmann(2024 UA)- '
    29.11.2025 19:30, Wiener Konzerthaus, Großer Saal